Bockenheim-Historiker. So hätte es auf der Visitenkarte heißen können, die der Lehrer und Konrektor Heinrich Ludwig allerdings nicht hinterlassen hat. Überhaupt hat er nur ganz wenige private Aufzeichnungen hinterlassen und Dinge aus seinem am 12. September 1944 durch eine Brandbombe zerstörten Haus in der Grempstraße 40 retten können. Was Heinrich Ludwig aber dem Stadtteil Bockenheim und dem heutigen Frankfurt hinterlassen hat, ist die Darstellung einer reichen und wechselvollen Vergangenheit in der „Geschichte des Dorfes und der Stadt Bockenheim“. 1940, kurz nach Beginn des 2. Weltkrieges, ist die 1. Auflage dieses Buches im Verlag Waldemar Kramer, Frankfurt, erschienen: 461 Seiten (davon 48 Seiten mit 81 s/w Abbildungen).

Diese Auflage wurde, wie der Verleger später notierte, zum größten Teil Opfer der Bomben, die Frankfurt im 2. Weltkrieg zerstörten. Exemplare der 1. Auflage waren antiquarisch erhältlich, für ca. € 100 oder befinden sich als Erbstück in Bockenheimer Familien.

Nach 82 Jahren ist das Buch im Auftrag der Bockenheimer Vereine Freunde Bockenheims und Institut für Selbstorganisation in einer 2. Auflage erschienen. In diese Auflage wurden die auf über 150 Seiten handschriftlich überlieferten Korrekturen und Ergänzungen des Autors Heinrich Ludwig eingearbeitet. Die Herausgeber sind Norbert Saßmannshausen und Hermann Ludwig. Norbert Saßmannshausen betonte bei der Vorstellung des Buches am 2. Juni 2022 in der St. Jakobskirche in Bockenheim: „Ohne die Transkription der Handschrift durch den Mitherausgeber Hermann Ludwig wäre die vorliegende Neuauflage nicht möglich gewesen. Hermann Ludwig ist ein entfernter Verwandter des Autors und beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit dem Autor. Er hat auch das Manuskript der „Häuserchronik von Alt-Bockenheim“ von Heinrich Ludwig entziffert (erschienen als Buch im Jahr 2019). Seine Fachkenntnisse waren, neben seinem großartigen Engagement und Fleiß, unersetzlich!“

Dore Struckmeier-Schubert, Vorsitzende des Vereins Freunde Bockenheims, erläuterte die Bedeutung des Buches bei der Buchvorstellung: „Eine solch umfangreiche und detaillierte Darstellung Bockenheimer Geschichte ist faszinierend. Auch und gerade in der Zeit der Industrialisierung und der Paulskirchen-Demokratie von 1848, als Bockenheim und Frankfurt zwischen 1819/1822 und 1895 konkurrierende Nachbarstädte waren, zeigten sich die gegenseitigen Abhängigkeiten.“

Dass diese Beziehungen zwischen Bockenheim und Frankfurt in Heinrich Ludwigs historischer Darstellung eine zentrale Rolle spielen, ist also unvermeidlich und macht das Buch auch für jeden an der Geschichte Frankfurts interessierten Leser lesenswert.  Die Neuauflage hat die Lesbarkeit deutlich gesteigert: Statt einer Frakturschrift wurde eine moderne Typographie eingesetzt. Trotz der Übertragung mit Hilfe eines professionellen OCR-Programms blieben dabei zeitraubende Kontrollen und Korrekturen zu bewältigen. Wilhelm Breder vom Vorstand der Freunde Bockenheims nannte Beispiele. „Das Computerprogramm übertrug systematisch zwei „s“ in Fraktur in „ff“, also Gasse in Gaffe. Auch Zahlen erforderten fast in allen Fällen einen Vergleich zwischen dem Original und der Übertragung: Viel Arbeit und hohe Konzentration.“

Das Buch schließt inhaltlich „eigentlich“ mit der Eingemeindung Bockenheims und seinem Ende als selbständiger Stadt. Heinrich Ludwig hat seit 1910 zur Geschichte Bockenheims geforscht. Leider ist sein Projekt einer Fortsetzung bis in die Gegenwart, von dem er in seinem Vorwort 1940 schreibt, nicht dokumentiert erhalten. Aber seine Jetztzeit im 20. Jahrhundert hat doch an einigen Stellen Eingang in die Geschichte des Dorfes und der Stadt gefunden. Dies gilt insbesondere für die Zerstörungen durch den Krieg, die Heinrich Ludwig in seinem Handexemplar durch eingefügte Fotos (in der Neuauflage zum ersten Mal veröffentlich) und Daten beispielhaft dokumentiert.

Wichtig ist das Buch auch für die Geschichte der Juden in Bockenheim. Auch hier enthält die Neuauflage mit den späteren Ergänzungen durch Heinrich Ludwig neue Informationen. Und nicht nur für die Herausgeber stellt sich die Frage, wie dieses Buch mitten im nationalsozialistischen Frankfurt überhaupt erscheinen konnte. Saßmannshausen: „Heinrich Ludwig war sicher kein Antisemit. Es bleibt verwunderlich, wie sein Buch ohne antisemitische Stellen im nationalsozialistischen Frankfurt erscheinen konnte.  Über seine Haltung zum Nationalsozialismus gibt es keine Dokumente. Ich vermute, das einige Stellen auf Betreiben des nationalsozialistischen Archivdirektors Gerber in das Buch aufgenommen wurden, aber dies bleibt spekulativ ohne das Ausgangsmanuskript zu kennen.“

Im ersten Leben Lehrer, sogar Konrektor an der Francke-Schule und im zweiten der größte Bockenheim-Historiker und Forscher: fünfzig Jahre seines Lebens hat Heinrich Ludwig der Geschichte Bockenheims gewidmet, geschrieben, recherchiert und in zahlreichen Veröffentlichungen sein umfangreiches Wissen dokumentiert. Und doch bleibt der Mensch hinter diesem Werk weitgehend unauffindbar. Ein einziges winziges, grob gerastertes Foto in hohem Alter bleibt von ihm, dazu ein Konvolut an Notizbüchern im Stadtarchiv der Stadt Frankfurt und ein Grabstein auf dem alten Bockenheimer Friedhof. Seine Bücher über Bockenheim sind seine für uns wertvolle Hinterlassenschaft.

 

Das Buch „Geschichte des Dorfes und der Stadt Bockenheim“ von Heinrich Ludwig umfasst 470 Seiten, enthält 100 Abbildungen. Es ist zum Preis von € 35,00 beim Verlag (Institut für Selbstorganisation, www.institut-iso.de) und Buchhandel erhältlich (ISBN 9783982140742). 

Über Leben und Werk Heinrich Ludwigs hat Hermann Ludwig im Buch “Spurensuche in BOCKENHEIM” im Beitrag “Der Bockenheim-Forscher Heinrich Ludwig” lesenswertes zusammengetragen (S. 111-119). Das Buch ist 2019 im mainbook Verlag erschienen und im Buchhandel erhältlich.